Glück und Unglück
Das kleine Glück ist etwas, das wir beeinflussen können. Wir müssen nur
achtsam sein: Dann bemerken wir die Blume, die aus dem Asphalt sprießt, den
seltenen Schmetterling, der vorbeifliegt, die Wiedersehensfreude im Gesicht der
Schulfreundin, die zufällig in der Stadt war. Dem kleinen Unglück dagegen
können wir nicht entkommen, wir laufen sehenden Auges hinein. So wie ich auf
einem glamourösen Event. Alles war perfekt, die Sommernacht lau, die Gästeliste
interessant, das Ambiente faszinierend, die Häppchen exquisit. Da tritt die
Gastgeberin zur Begrüßung auf mich zu, mit strahlendem Lächeln. Und ich sehe
mein kleines Unglück, auch ohne Brille hätte ich es bemerkt: Ein Stück Grün
leuchtet zwischen ihren makellosen Schneidezähnen. Spinat oder Petersilie, überlege
ich. Und schon stecke ich im Zwiespalt: Soll ich was sagen?
Petersilien-Botschaft
Der große Komiker Loriot hat dieser Situation einen unvergessenen Sketch
gewidmet: „Die Nudel“ erzählt von einem Dinner-Date, bei dem der Mann ein Stück
Spaghetti im Gesicht hat und die Frau seine Liebeserklärung nicht hört, weil
sie nur an die Nudel denken kann. So wie ich plötzlich ausschließlich
Petersilie im Kopf habe. Soll ich was sagen?, hämmert es in mir. Wagte ich es,
dann behielte mich die Gastgeberin womöglich für alle Zeiten als die
Überbringerin der schlechten Petersilien-Botschaft in Erinnerung und verbände
mich mit dem Gefühl von Peinlichkeit. Dabei hätte ich sie tapfer vor weiteren
Begegnungen dieser Art bewahrt. Andererseits kann ich auch hoffen, dass das
Grünzeug beim nächsten Schluck Champagner ganz von selbst den ihm zugedachten
Weg findet. Dann hätte die gute Frau nie teilgehabt an unserem kleinen Unglück.
Nichtwissen ist manchmal ein Glück
Die offene Hose, das aufgeplatzte Kleid,
der Fleck hinten auf dem Rock: Ich frage mich, für wen solche Situationen
schlimmer sind – die Entdecker*innen des Malheurs oder die Träger*innen der
Blamage? Jedenfalls gibt es aus dem Soll-ich-was-sagen-Dilemma keinen
eindeutigen Ausweg. Den Chef bei einem Mitarbeitergespräch auf seine Hose
hinzuweisen, scheint eher nicht so angebracht. Die Freundin dagegen würde man
auf gar keinen Fall mit Cappuccino-Bärtchen weiterziehen lassen. Die
Überlegung, wie hätte ich es selbst am liebsten, hilft hier auch nicht weiter.
Zu unterschiedlich ist das Peinlichkeitsempfinden der Menschen. Was die
Gastgeberin des Events angeht, am Nachbarstehtisch fasste sich eine von mir
bewunderte Mutige ein Herz. Lustig. Lachen, und der Fleck auf weißen Zähnen war
Geschichte.